Ein Auszug aus meinem Artikel auf reise-asien.com
Es ist 8 Uhr morgens, als meine Tante mir einen Caphe Sua Da macht, einen mit Kondensmilch gesüßten Eiskaffee. Für Europäer ist dieses Getränk meist zu süss und zu stark, daher wird dann lieber eines der zahlreichen amerikanisierten Coffee Shop à la Starbucks, Highland Coffee und wie sie auch alle heissen frequentiert. Ich bin kein Kaffee-Fan und bekenne mich dazu einen frisch gebrühten Grüntee-Jasmin zu bevorzugen. Seit ich jedoch in Saigon lebe, wurde ich eines besseren belehrt. Ein Tag ohne meinen heiss geliebten Caphe Sua Da ist unvorstellbar.
„Mach dich bereit Mai, wir gehen in ein Waisenhaus“, sagt mir meine Tante.
Das, was mir jedoch dort widerfuhr, veränderte meine Lebensansicht und in keiner Weise konnte ich mich darauf vorbereiten.
Ich erfuhr über meine Mutter von einem Waisenhaus in der Nähe meiner Grossmutter. Dieses Waisenhaus widmet sich denen, die von keinem gewollt werden oder auch nicht die Möglichkeit besitzen ein deformiertes Wesen zu pflegen. Die Kinder und jungen Erwachsenen, die hier leben, sind blind und haben zusätzlich körperliche Einschränkungen wie fehlende Gliedmassen.
Zurzeit leben hier um die 25 Waisenkinder, die von einer Nonne und ein paar Freiwilligen gepflegt werden. Früher lebten hier um die 100 Waisenkinder, angefangen im Säuglingsalter bis hin zum Studentenalter, aber da der Platz sehr beschränkt war, wurden die Jüngeren nach Thu Duc im Nord-Osten Ho-Chi-Minh Citys gebracht.
Das Waisenhaus ist schwer zu finden. Es ist nicht zugänglich für Touristen oder Freiwilligenhelfer, da die Arbeit mit behinderten Menschen sehr aufwendig ist. Alles dient hier zum Schutz der Kinder.
Mein Glück ist, dass meine Familie sich sehr engagiert und die Nonne Miss H. gut kennt und mich daher empfehlen konnte.
Nachdem ich vorgestellt wurde, führte mich Nonne H. in dem 3-stöckigen einfachen Haus rum. Es war Sonntag und die Kinder waren in der Messe oder auf der Hochzeit einer Bekannten.
Im 2. Stock angelangt wurde ich den 3 Studenten vorgestellt, die fleissig vor sehr alten Maschinen sassen, die man als Computer bezeichnete. Mit Kopfhörern bewaffnet, sitzen sie davor und lernen oder surfen im Internet. Wie jeder normale Teenager bis auf die Tatsache, dass diese blind sind. Eine spezielle Software liest Ihnen vor und macht es so möglich Zeitungsartikel und Emails zu lesen.
Ich setzte mich zu T hin, einem Englischstudenten. Er ist bereits im 2. Jahr und wird demnächst den IELTS Test machen. Einen Englischtest, der dich schriftlich sowie mündlich prüft. Er erzählt mir, dass er Angst vor der schriftlichen und mündlichen Prüfung hat. Verständlich, denn die hatte ich auch, als ich im Juni meine C1 Cambridge Prüfung ablegte. Mein Blick fällt auf seine flinken Finger, die mit einer Leichtigkeit über die Tastaturen fliegen und dann fällt es mir auf. Ihm fehlen an der linken Hand 2 Finger. Total berührt fliessen mir die Tränen über die Wangen und ich bin etwas erleichtert, dass die Kinder das nicht sehen. Die sind keine Mitleidstränen, im Gegenteil, ich bin so berührt und stolz auf die Kinder, dass ich einfach nicht aufhören kann zu weinen.
Total aufgelöst verspreche ich ihm zu helfen. Ich werde jeden Sonntag, soweit es mir möglich ist, zu ihm kommen und Englisch beibringen.
Nonne H kommt zu mir und zeigt mir, wie die Kinder ihre Freizeit verbringen. Sie basteln aus Plastikperlen wunderbare Spielzeuge und Schlüsselanhänger. Hasen, Hunde, Schweine oder Blumen sind in den Regalen des Waisenhauses ausgestellt. Sie stehen zum Verkauf da, aber es ist nicht viel. H. meint, dass es darum geht, die Kinder zu beschäftigen und nicht darum Profit zu machen.
Zuletzt werde ich in die Schlafsäle gebracht. Kalte, eiserne Platten, spärlich zusammengebaut zu Stockbetten strahlen mir entgegen. Keine einzige Matratze in Sicht, nur harte Eisenplatte mit dünnen Strohmatten gepolstert. Kleine Ventilatoren reihen sich an Schulbüchern, Bett an Bett.
Nonne H. wünscht sich nur 2 Dinge. Neue Betten für die Kinder und Computer zum Lernen. Ein Bett kostet hier 2 Millionen VND, umgerechnet ca. 70 Euro. Geld, das das Waisenhaus nicht hat, denn es wird nicht vom Staat unterstützt, sondern lebt von Spenden der Nachbarschaft.
Ich werde von 2 Kindern begrüsst, beide mit deformierten Gesichtern, blind, offensichtlich Opfer des Agent-Orange Giftes, das noch heute in den Böden und Grundwasser vorzufinden ist. Beide besuchen die Mittel und Oberstufe einer lokalen Schule. Der Ältere geht in die 12. Klasse und steht kurz vor dem Abschluss. Er ist ein sehr talentierter Klavierspieler und H. hofft darauf ihn als professionellen Klavierlehrer auszubilden.
Ich frage mich, wie die blinden Kinder jeden Tag zur Schule kommen. In einer Stadt wie HCM mit über 7 Millionen Einwohnern mit fast so vielen Rollern und Motorrädern ist es als sehender Mensch schon sehr gefährlich die Strasse zu überqueren. Wie jedoch ist es für einen Menschen, der nicht den Zweirädern ausweichen kann?
Während die blinden, engelsgleichen Wesen mir von ihrem Alltag und Ihren Wünschen erzählen, frage ich mich, wo ich all die Zeit war. War ich mein Leben lang blind, obwohl ich 2 gesunde Augen besitze? Sind meine Wünsche von einem neuen Laptop, Auto oder Job einfach Irrsinn, wenn Tausende Kilometer entfernt blinde und deformierte Kinder und Jugendliche davon träumen eines Tages zu sehen, zur Schule gehen zu können und eine Familie haben, die sie liebt und in den Arm nimmt.
In einem armen Land wie Vietnam, gibt es überall Armut. Strassenkinder, Bettler und Kriegsveteranen findet man an jeder Ecke. Die Armut, die ich jeden Tag hier sehe, tut mir weh. In Südostasien bedeutet jedes weitere Kind eine Arbeitskraft, die, wenn sie jedoch nicht imstande ist, körperlich was zu leisten, eine grosse Bürde ist. Es bricht mir das Herz, wenn blinde und körperlich eingeschränkte Kinder, weggegeben werden und auf sich alleine gestellt sind. Sie sind hilflos und brauchen Hilfe, unsere Hilfe.
Ich möchte euch mit diesem Artikel zeigen, wie gut wir es in der westlichen Welt haben.
Wir sind zu verwöhnt von unserem Lebensstandard und umso mehr geschockt, wenn wir Armut sehen. Dieser Tag hat mein Leben verändert. Ich bin für all das, was ich habe dankbar und möchte den Kindern alles zurückgeben. Meine Wohltätigkeitsarbeit ist nicht viel und wahrscheinlich bin ich nur einer von vielen, aber wenn wir gemeinsam unsere Augen öffnen, können wir die Welt ein Stückchen besser machen.